Berlin, Berlin…
von Udo Straßmann
Wo Honecker und Breschnew sich im sozialistischen Kusse auf einem Gemälde von Dmitri Wladimirowitsch Wrubel an der East Side Gallery zeigen und das rote Sofa nicht in Beelitz, sondern im Kietz steht, wo der zerschossen wirkende amerikanische Horchposten auf dem Teufelsberg und die großformatigen Leucht-Buchstaben des Buchstabenmuseums an die wilde Zeit der 20er-Jahre erinnern, da ist Berlin. Und dieses Berlin ist mehr als die aus den Ruinen wiedererstandene Hauptstadt Deutschlands mit ihren touristischen Wahrzeichen, es ist gleichzeitig die sich stets weiterentwickelnde Kunst- und Kulturstadt, die ihren Charme aus der Vielfalt, ja aus dem Chaotischen und Anarchischen bezieht. Berlin sei die einzige Stadt Deutschlands, wo der Künstler sich als Bohémien fühlen könne, sagt man.
Bei unseren zahlreichen Besuchen seit den letzten fünf Jahren haben wir immer wieder verschiedene Aspekte dieses neuen Berlin fotografisch einzufangen versucht. Und es ist uns dabei ergangen wie Siegfried Kracauer, der die Sammlung von Fotografien von Berlin aus den 20er Jahren als „das ungewusst mitgeführte Leben“ empfand und dabei erkannte, dass „das Heute stückweise in die Vergangenheit zurücksinkt und das Vergangene stetig im Heute weiter rumort“[1].
Bei Detlef rumorte es gewaltig. Er wollte immer schon einmal an die Entwicklung Berlins erinnern. Und da setzen sich die großen Werbeschriften nahtlos fort in den großartigen Graffiti an den Häusern von Kreuzberg wie an der „Musikschule Tomatenklang“ oder dem poetischen Blütenträumer an dem Haus Ecke Falckensteinstraße und Görlitzer Straße.
Und Fotografieren macht hungrig und durstig. Wie gut, dass man noch die zahlreichen Currywurst-Buden findet, die wir und besonders Fritz so schätzen, und die zahlreichen Berliner Kneipen, wie den „Schusterjungen“ am Prenzlauer Berg, aber auch die Joseph-Roth-Diele in Berlin-Mitte, wo sich die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen treffen. Und fast schon familiär wird es im Stadtteil Lichterfelde, wo uns in einer Glücksspiel-Bar weniger die Spielgeräte interessieren als vielmehr die Typen, die dort „verkehren“, so dass wir vier Typen aus Wuppertal (und Remscheid) mehrmals einkehren. Ja, Berlin hat vielleicht nicht mehr Zilles Milljöh, aber genügend schräge Leute, die ihre Turnschuhe, Stiefel und Pömps unter der Oberbaumbrücke aufhängen.
Leider gibt es auch solche darunter, die den libertären Geist der Stadt für ihre Zwecke zu nutzen suchen: Rassisten, Coronaleugner, Verschwörungstheoretiker, Rechts- und Linksradikale, Dumpfbacken, Fahnenschwenker und viele andere mehr. Dass Siegfried Kracauer in Berlin sogar einen „Kurort“ sah, mag man angesichts der neuen Bilder von Demonstranten vor dem Reichstagsgebäude gar nicht glauben. Er meinte, „daß man die Erholung nicht einmal mehr in Wannsee suchen muß, sondern sie in der Stadt selber findet, dort, wo die Unruhe am größten ist. Lauter kleine Oasen sind während der letzten Monate entstanden. Sie liegen mitten in der Krise und dem Wahlkampf und nur einen Schritt von den nächsten Straßenkämpfen entfernt.“[2]
Im Guten wie im Schlechten, in Berlin spürt man sich und die Zeit!
[1] Siegfried Kracauer: Straßen in Berlin und anderswo, erstmals 1964 erschienen, auf Skizzen und Essays zwischen 1926 und 1933 basierend, Frankfurt a. M. 2009, S. 236
[2] Siegfried Kracauer: a.a.O., S.
Claus-Dieter Meier
Detlef Hinz
Udo Straßmann
Fritz Zander